An der Weichsel in Polen übt die Nato für den Ernstfall
Ein schweres Militärfahrzeug nach dem anderen nähert sich dem Flussufer, klappt die Seitenschwimmkörper aus und fährt ins Wasser. Es dauert knapp zehn Minuten, dann sind jeweils vier von diesen Amphibischen Brücken- und Übersetzfahrzeugen, von der Bundeswehr kurz «Amphibie M3» genannt, zu einer Fähre verbunden. In schneller Fahrt queren sie den Fluss und bringen Kampfpanzer, Mannschaftstransporter und Jeeps ans andere Ufer der Weichsel.
An Polens längstem Fluss übt die Nato für den Ernstfall. Die Übung «Dragon 24» (Drache) findet rund hundert Kilometer südlich von Danzig in Korzeniowo statt. Die Weichsel hat hier eine Breite von 320 Metern. An drei Stellen setzen deutsch-britische, französische und polnische Pioniereinheiten schweres Gerät über das Wasser. Insgesamt sind an der Übung 20 000 Soldaten aus neun Nato-Ländern beteiligt, davon 15 000 aus Polen. Die Bundeswehr ist mit 1300 Männern und Frauen dabei.
«Sowohl das Baltikum als auch Polen sind von grossen Gewässern durchzogen. Und in einem möglichen Szenario sind natürlich die Brücken ein lohnendes Ziel für einen potenziellen Gegner – die sind relativ schnell zerstört», sagt Oberstleutnant André Burdich vom deutsch-britischen Pionierbrückenbataillon 130. Dann brauchen die Soldaten die Amphibienfahrzeuge und Pontonbrücken, um möglichst rasch Kampfgerät überzusetzen sowie Verstärkung und Reserven nach vorn zu bringen.
Die Übung an der Weichsel ist Teil eines Grossmanövers, das die Nato zur Abschreckung Russlands an ihrer Ostflanke abhält. Die rund vier Monate dauernde Übung Steadfast Defender (etwa: «Standhafter Verteidiger») erstreckt sich von Norwegen bis hin in Länder wie Rumänien. Das Verteidigungsbündnis hat dafür rund 90 000 Soldaten mobilisiert. «Wir zeigen, welche Fähigkeiten wir haben, und wir verbinden das mit der Entschlossenheit, sie auch einzusetzen», sagt der deutsche Nato-General Gunnar Brügner.
Ein Hauptziel des Grossmanövers ist neben dem Trainingseffekt die Abschreckung. Brügner formuliert das so: «Jedes Schiff, das segelt, jedes Flugzeug, das fliegt, jeder Helikopter in der Luft, jeder Panzer, der rollt, sendet eine Botschaft. Und das ist notwendig.»
Es gibt zunehmende Warnungen, dass Russland in einigen Jahren bereit sein könnte, den Bündniswillen der Nato auf die Probe zu stellen. Seit dem Vorstoss des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der einen Einsatz von Bodentruppen in der Ukraine nicht ausschliessen will, hat die Debatte um die Kriegstüchtigkeit des Bündnisses noch weiter an Fahrt gewonnen.
Polen ist einer der engagiertesten Unterstützer der Ukraine, es hat zudem knapp eine Million Kriegsflüchtlinge aus seinem östlichen Nachbarland aufgenommen. Ausserdem dient es als logistische Drehscheibe für die Militärhilfe des Westens. Das EU- und Nato-Mitglied gehört zu den Ländern, die sich wegen ihrer Lage besonders von Russland bedroht fühlen. Viele Polen befürchten, dass ihnen eines Tages ein ähnliches Schicksal drohen könnte wie den Menschen in der Ukraine, die mittlerweile seit mehr als zwei Jahren mit einem russischen Angriffskrieg konfrontiert sind. Die Botschaft der Übung Dragon 24 sei klar, sagt Nato-General Brügner: «Wir sind bereit zur Verteidigung Polens.»
Polen hat zuletzt massiv in moderne Waffensysteme investiert und gibt rund vier Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung aus. Regierungschef Donald Tusk warnte kürzlich, man müsse die Drohungen von Russlands Präsidenten Wladimir Putin gegen den Westen «todernst» nehmen.
In einem Interview mit dem rechtsgerichteten US-Moderator Tucker Carlson hatte Putin Anfang Februar erklärt, ein Einmarsch Russlands in die Nato-Staaten Polen und Lettland sei «absolut ausgeschlossen» – mit einer Ausnahme. Auf die Frage, ob er sich ein Szenario vorstellen könnte, in dem er russische Truppen nach Polen schicken würde, entgegnete Putin: «Nur in einem Fall: Wenn Polen Russland angreift.» Russland habe keine territorialen Interessen in Polen oder Lettland, versicherte er. Gleiches hatte er aber auch vor seinem Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 gesagt.