In «Der Spatz im Kamin» werfen Mütter ihre Schatten
Das Familiendrama «Der Spatz im Kamin» thematisiert die Befreiung von Müttern in mehrfacher Hinsicht. Der Film war am Locarno Filmfestival der einzige Schweizer Beitrag im internationalen Wettbewerb und startet nun in den Kinos.
«Der Spatz im Kamin» ist ein kontrastreicher Film, der in einem idyllischen Haus im ländlichen Kanton Bern spielt. Thema sind der Prozess der Befreiung und eine Familie, in der der Familiensegen schief hängt. Der Film erzählt davon vor dem Hintergrund eines Familienfestes, an dem zwei unterschiedliche Schwestern aufeinandertreffen. Erinnerungen an die verstorbene Mutter stärken den Drang der einen Schwester Jule (Britta Hammelstein) gegen die andere, Karen (Maren Eggert), zu rebellieren. Und auch die herrische Karen wird von ihren drei Kindern gehasst.
Das Bild von einem Spatz, der im Schornstein des Hauses eingesperrt ist, dann befreit wird und die Flucht ergreift, steht am Anfang des Films. Er nehme die persönliche Befreiung von Karen quasi vorweg, sagte Regisseur Ramon Zürcher im August am Locarno Film Festival gegenüber der Nachrichtenagentur Keystone-SDA.
«Der Spatz im Kamin» ist nach «Das merkwürdige Kätzchen» (2013) und «Das Mädchen und die Spinne» (2021) der dritte Teil der sogenannten «tierischen Trilogie» der beiden Brüder Ramon und Silvan Zürcher. Ramon ist Regisseur, Silvan Produzent. Seit 2017 arbeiten die Zwillingsbrüder in der gemeinsamen Produktionsfirma Zürcher Film zusammen.
Tier-Trilogie mit Menschen im Zentrum
«Das Konzept der Trilogie stand nicht von Anfang an fest, zuerst habe ich ‚Das merkwürdige Kätzchen‘ geschrieben und inszeniert, und als dieser fertig war, begann Silvan das Drehbuch für ‚Das Mädchen und die Spinne‘ zu schreiben, und ich begann mit ‚Der Spatz im Schornstein’», erzählte Ramon weiter.
Erst während des Schreibprozesses hätten die Brüder bemerkt, dass die drei Filme Gemeinsamkeiten haben. Daher die Entscheidung, eine Trilogie zu machen. «Es gibt wichtige formale Aspekte wie Statik und Bewegung», erklärt Roman. Dieser Kontrast zwischen Bewegung und Stillstand ist «schon im Plan, aber auch in der Entwicklung der Trilogie» vorhanden.
«Wir nennen es eine ‚Tier-Trilogie‘, aber im Zentrum der drei Filme stehen Menschen, Beziehungen, insbesondere die Familie», fügt Produzent Silvan hinzu. Die Brüder konzentrieren sich vor allem auf die Schattenzonen dieser Beziehungen. «Die Tiere haben für uns keine symbolische Bedeutung, sondern sie öffnen ein Assoziationsfeld zu den Themen des Films», erklärt er.
Dabei sei «Der Spatz im Kamin» näher an der Bewegung als die beiden Vorgängerfilme. «Der Film ist wie eine Reise, die bei der Statik beginnt und zur Dynamik führt, nicht nur formal durch die Kamera, sondern auch durch das Drehbuch und die Psychologie der Figuren», sagte Silvan.
Dafür stehe ganz besonders Karens Befreiungsprozess, der nicht nur psychologisch stattfindet, sondern im übertragenen Sinn auch in der Geschichte wiedergegeben werde, mit der Reise von Karens Elternhaus zum Bauernhof im Wald, erklärte der Regisseur.
Statik und Bewegung sind nicht die einzigen Gegensätze im Film: «Die Konstruktion des gesamten Films basiert auf der Idee der Kontraste», sagte Ramon. So wechselt etwa die Musik von leicht zu Technobeats oder Schatten im Haus kontrastiert die Helligkeit draussen.
Zwischen Traum und Wirklichkeit
«Ich wollte die Geschichte einer Verwandlung erzählen», so Ramon, der neben der Regie auch für das Drehbuch verantwortlich zeichnet. Gegen Ende des Films verwischen die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit so sehr, dass es schwierig wird, zu erkennen, was der Realität in der Geschichte entspricht und was nicht. «Mir gefällt, dass die Realität fliessend wird», sagte Ramon.
Dafür steht besonders das idyllische Haus, das zugleich ein bedrückender Ort ist für schmerzhaften Erinnerungen, die nach und nach auftauchen. Der Vater der Schwestern hat dort Suizid begangen, Jule erinnert sich voller Hass an ihre Mutter – ein Hass, den ihre Schwester Karen von den eigenen Kindern erfährt. «Der Raum wird zu einem inneren Raum, der Karens Psychologie widerspiegelt», erklärte Ramon.
Etwas Fliessendes zeigt sich auch im Umgang der Brüder mit unterschiedlichen Genres: «Das Tolle ist, dass wir, wenn wir den Traum zeigen, etwas Abstraktes aus dem Horror, dem Krimi und psychedelische Spielereien verwenden können – eine Ästhetik, die dem Alptraum nahe kommt», sagte Ramon.
Für ihre Filme arbeiten die Brüder Zürcher eng zusammen und weisen sich dabei keine fixen Funktionen zu. «Bei den drei Filmen war es immer anders», sagte Ramon. Künstlerische Entscheidungen würden gemeinsam getroffen, «unabhängig von den Rollen, die wir haben». Dabei sei Silvan «der erste, der das Drehbuch liest und mir Feedback gibt» erzählte Ramon.
Mit «Der Spatz im Kamin» waren die beiden erstmals im Wettbewerb eines Festivals vertreten. Der Film konkurrierte im internationalen Wettbewerb des 77. Locarno Film Festival um den Goldenen Leoparden, ging aber leer aus. Am (heutigen) Donnerstag startet er in den Deutschschweizer Kinos.