Verstappen zeigt in der Niederlage Grösse
Der entthronte Formel-1-Weltmeister Max Verstappen weiss die Titelentscheidung zu seinen Ungunsten richtig einzuordnen. Der Niederländer zeigt in der knappen Niederlage Grösse.
Ein kurzes Lächeln musste es dann doch sein. Das war er den Heerscharen seiner Fans schuldig. Zu Platz 2 hatte es ihm gereicht in seinem Heimrennen, dem Grand Prix der Niederlande. Doch Verstappen wusste, dass da auch in den Dünen in Zandvoort noch jede Menge Sand im Getriebe war bei seinem Dienstwagen. Der RB21 taugte nur in Ausnahmefällen zum Gewinnen. Das schlug dem vom Erfolg Verwöhnten selbstredend aufs Gemüt – und sich in der WM-Gesamtwertung in einem übergrossen Rückstand auf den führenden Australier Oscar Piastri aus dem Hause McLaren nieder.
Die 104 Punkte Rückstand am letzten Tag im August liessen nur eine Schlussfolgerung zu. Verstappen blieb lediglich die Erkenntnis, endgültig weg vom Fenster zu sein. Die Möglichkeit, das fünfte Mal ohne Unterbruch Formel-1-Weltmeister zu werden, das Kunststück zu schaffen, das bisher nur Michael Schumacher in Diensten der Scuderia Ferrari zu Beginn dieses Jahrtausends gelungen war, schien dahin.
Die 104 Punkte entsprachen praktisch dem Gegenwert von vier Grand-Prix-Siegen. Verstappen seinerseits war an jenem Sonntag zum achten Mal in Folge nicht Erster geworden. Die schon vor dem Beginn der Saison geäusserten Zweifel an der Konkurrenzfähigkeit des blauen Autos hatten sich bewahrheitet. Auf jeden Fall waren sich diesbezüglich die meisten Beobachter einig mit dem Niederländer.
Das zurückgekehrte Lächeln
Drei Monate später war das Lächeln zurück bei Verstappen. Im Verbund mit den Ingenieuren, Helfern und Helfershelfern in der Equipe Red Bull schaffte er den Anschluss an seine beiden Konkurrenten aus dem orangen Lager. Am Ende etwas glückhaft zwar dank der Disqualifikation von Lando Norris und Oscar Piastri in Las Vegas und dem strategischen Denkfehler der Verantwortlichen des Teams McLaren eine Woche danach im Grossen Preis von Katar. Das alles musste Verstappen nicht kümmern. Für ihn zählte einzig, beim Saisonfinale in Abu Dhabi die unverhoffte Chance auf die neuerlich erfolgreiche Titelverteidigung bekommen zu haben.
Abu Dhabi. Wieder die Hauptstadt der Vereinigten Arabischen Emirate also. Wieder der Rundkurs, auf dem Verstappen vor vier Jahren seine Titelserie eröffnet hatte – und wie jetzt Schützenhilfe von aussen zugeschanzt bekam. Ein Fehlentscheid des damaligen Renndirektors des Internationalen Automobil-Verbandes, Michael Masi, erlaubte Verstappen nach einer Neutralisation des Rennens, die nach einem Unfall des Kanadiers Nicholas Latifi im Williams nötig geworden war, in der letzten Runde das entscheidende Überholmanöver gegen den führenden Lewis Hamilton im Mercedes. Der Australier Masi musste zwei Monate später seinen Posten räumen.
Verstappen durfte die besonderen Umstände vor vier Jahren und an den zwei Wochenenden vor dem heurigen Finale in Abu Dhabi getrost als Glück des Tüchtigen betrachten. Auch wenn es am Sonntag nichts wurde mit der fünften WM-Krone: Verstappen hatte sich im Titelrennen auf eine Weise zurückgemeldet, wie wohl nur er es konnte. Er, dessen Selbstverständnis eigentlich nur die Rolle des Gejagten vorsieht, spielte den Part als Jäger auf perfekte Art. Er konnte ihn spielen dank seines immensen Talents, seinen von den Konkurrenten unerreichten Fähigkeiten am Steuer eines Rennwagens.
Der zurückgekehrte Glaube
Verstappen nahm die Herausforderung an. Nach anfänglicher Skepsis, die nach dem Auftritt in der Heimat ihren Höhepunkt erreicht hatte, begann auch er wieder an das unmöglich Scheinende zu glauben – in einer Saison, während der es auf Seiten der Roten Bullen nicht nur wegen des lange Zeit ungenügenden Autos klimatische Störungen gegeben hatte, nach der sogar der Abgang Verstappens ein durchaus mögliches Szenario schien. Die Hoffnung, die vorab Helmut Marko, der Motorsportberater im Unternehmen Red Bull, am Leben gehalten hatte, verfehlte auch beim Niederländer ihre Wirkung nicht.
Die im Wochen- oder Zwei-Wochen-Rhythmus vorgenommenen Änderungen am RB21 und die damit verbundene stetige Leistungssteigerung des Autos verliehen Verstappen Flügel. Für ihn bewahrheitete sich quasi das, was die Zuständigen beim Mutterkonzern des Rennstalls den Kunden seit vielen Jahren mit dem allseits bekannten Werbespruch versprechen. Dass die Spannweite der Flügel dank den Patzern im Team McLaren zusätzlich grösser wurde, nahm der Niederländer natürlich gerne zur Kenntnis.
Selbstverständlich wird Verstappen ein gewisses Mass an Ärger verspürt haben, dass am Ende zwei mickrige Punkte den Ausschlag zu seinen Ungunsten gegeben haben. Doch in den Stunden nach seinem Sieg im Grand Prix von Abu Dhabi hat vorab der Stolz seine Gedanken dominiert, der Stolz auf das Team und die Belegschaft, «die in einer teilweise schwierigen Saison alles unternommen hat, um die Wende herbeiführen zu können. Ich bin stolz, dass wir nie aufgegeben haben».
Es sind Sätze von einem, der mit sich im Reinen ist, der sich natürlich weitere Ziele in seinem Beruf als Autorennfahrer setzt, der aber auch von sich sagt, in der Formel 1 alles erreicht zu haben, dass seit seinem ersten Titelgewinn «alles, was kommt, nur noch Zugabe ist». Es sind überraschende Sätze von einem, dem ausbleibender Erfolg eigentlich ein Greuel ist, der es hasst zu verlieren.
Es waren gleichwohl ehrlich gemeinte Sätze. Verstappens herzliche Gratulation an seinen Nachfolger Norris am Sonntagabend in Abu Dhabi war nicht gespielt, das Lächeln in seinem Gesicht nicht aufgesetzt.
